MARTIN SCHÖNFELD- aus dem Katalog “Barbara Ur – Andrzej Jan Piwarski – Zeitspuren – Konstruktionszeit”Galerie Schwartzsche Villa, BERLIN 2007

Rückbesinnungen in Malerei und Plastik. Barbara Ur und Andrzej Jan Piwarski in der Schwartzschen Villa.

An ein gemeinsam geschaffenes Kunstwerk können sich Barbara Ur und Andrzej Jan Piwarski nicht erinnern. Zwar bewegen sie sich seit 40 Jahren als ein Künstlerpaar in der europäischen Kunstöffentlichkeit; seit fast 40 Jahren stellen sie zusammen aus, und 1992 haben sie gemeinsam das Europäische Kunstlaboratorium Tuchomie in Polen gegründet. In ihrem künstlerischen Schaffen gehen sie aber ihre eigenen, ihre individuellen Wege. Und schon ein kurzer Blick auf ihre Werke verdeutlicht die Gegensätze: Barbara Ur neigt dem Experiment zu und sprengt in ihren Bildern und Skulpturen die Grenzen der Mal- und Oberflächen ganz bewusst auf. Andrzej Jan Piwarski schafft dagegen viel stärker aus der Tradition der klassischen Moderne heraus, und aus seinen Bildern spricht das Ethos einer kultivierten Malerei. Während die Werke von Barbara Ur ein impulsiver Neoexpressionismus auszeichnet, sind die Malereien von Andrzej Jan Piwarski einem lyrischen Realismus verbunden. Barbara Ur strebt eine deutliche Aussage an, Andrzej Jan Piwarski’s Gemälde kennzeichnet ein reflektierender Arbeits- und Betrachtungsprozess. Die künstlerischen Unterschiede des Künstlerpaares Ur-Piwarski, das seit 2005 in Berlin ansässig ist, können also nicht deutlicher sein.

….Ein wichtiger künstlerischer Ausgangspunkt sind für Andrzej Jan Piwarski die Städte. Verdankt er doch den alten Städten, ihren Bauten und deren verblichenen Fassaden viele Anregungen für sein Schaffen. Vor allem die allmählich bröckelnden Wände der historischen Bauten, die nicht alle fünf Jahre einen frischen Anstrich erhalten, haben es ihm angetan. In seinem Zyklus “Zeitspuren” greift er ihr Erscheinungsbild auf und spürt den darin inne liegenden Geschichten nach. Die sich mit den Tagen, Wochen, Monaten, Jahren, Jahrzehnten in die Wände eingegrabenen Zeichen des Zeitlaufs – Parolen, Plakate, Schrammen, Verschmutzungen – erkennt er als Symbole der Veränderung. In seinen Malereien verdichtet er diese Zeitspuren zu komplexen Kompositionen. In vielen Schichten trägt er die Farben auf, mischt den Farben Sand und vor allem Marmormehl bei, so dass seine Malereien eine sehr feine und besondere Plastizität auszeichnet. Die Töne unterer Farbschichten werden wie in einem Sgraffito an die Oberfläche hervorgekratzt. Striche, Buchstaben, Wörter formen grafische Strukturen. Aber sie können nicht entziffert werden. Durch die vielen Malschichten verlieren sie ihre Lesbarkeit. Mit feinen Lasuren erreicht Piwarski die Blässe des Verblichenen; er lässt die Aufschriften wie durch Wind und Wetter ausgewaschen wirken. Während sich seine Kompositionen lange Zeit im Bildzentrum verdichteten, gewinnen sie neuerdings eine immer größere Offenheit. Es scheint, als wolle Piwarski die zeitliche Distanz seiner Bildspuren ausweiten, denn sie treten immer stärker zurück. Seine Werke werden immer lichter: Weiße, helle Töne und ein mildes Grau gelangen immer öfter und immer stärker zur Anwendung. So gewinnen die Werke an Transzendenz, sie werden zeitloser, ihre Zeitspuren werden immer archetypischer. Auch die Zeichen verlieren allmählich ihre Zeichenhaftigkeit und können nicht mehr eindeutig einer bestimmten Sprache oder einer bestimmten Kultur zugeordnet werden. Den Betrachter versetzen diese Werke in die Rolle eines Archäologen, denn die Betrachtung wird zu einem Prozess der visuellen Recherche. Piwarski’s Malereien werfen Fragen auf, deren Beantwortung nur der Betrachter selbst erahnen kann.

Als künstlerische Rückbesinnungen in Malerei und Plastik können die Werke von Barbara Ur und Andrzej Jan Piwarski aufgefasst werden. Sie befassen sich mit gestalterischen Bezügen zu dem Vergangenen und Vergessenen. Ihre Fragen an die neuere und ältere Geschichte formen sie mit Mitteln und Objekten der Gegenwart, die ihnen als Brücken zur Vergangenheit dienen. Damit eröffnen sie aber eine ganz realistische Perspektive: Ur und Piwarski arbeiten im Kontext eines zeitgenössischen Realismus, der nicht konstruiert werden muss, sondern sich auf die Dinge, Objekte, Medien und Existenzen der Gegenwart konkret bezieht. Den Betrachtern die Augen zu öffnen für die Wirklichkeiten der Gegenwart und ihren Beziehungen zu den Formen der Vergangenheit, das ist ein wichtiges Anliegen beider künstlerischer Ansätze. In dieser künstlerischen Haltung vereinen sich die vordergründig so unterschiedlichen Arbeitsweisen und Handschriften: In dem Gegenwärtigen das Vergangene zu entdecken und aus dem Vergangenen Perspektiven für unsere Gegenwart und Zukunft zu entwickeln – dieses Wechselspiel von Heute und Damals schweißt die zwei Künstlerindividualitäten Ur und Piwarski zu einem Künstlerpaar zusammen.

MARTIN SCHÖNFELD- aus dem Katalog “Barbara Ur – Andrzej Jan Piwarski – Zeitspuren – Konstruktionszeit”Galerie Schwartzsche Villa, BERLIN 2007