Die Materie sprechen lassen
Andrzej Jan Piwarski zum 70. Geburtstag
Siebzig Jahre im Leben stehend, fünfzig Jahre als Künstler aktiv, mehr als vierzig Jahre im internationalen Ausstellungswesen vertreten – das ist die bisherige, beeindruckende Bilanz von Andrzej Jan Piwarski, die nicht verrät, welche Umstände damit oft verbunden waren. In diesem Gesamtwerk ist ein Alterstil noch längst nicht erkennbar. Wollte man sein derzeitiges Schaffen dazu zählen, dann hätte Piwarskis Spätwerk schon vor fast zwanzig Jahren begonnen. Zwar ist die früher expressive Handschrift allmählich einer ruhig-reflektierenden Malweise gewichen und sind seine Werke lyrischer geworden. Aber mit dieser Entwicklung ist ihm das zentrale Thema der “Zeitspuren” nicht abhanden gekommen und hat in seinem Schaffen an Bedeutung nichts eingebüßt. Das Wort “Zeitspuren” selbst verdeutlicht, welchen Stellenwert die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Zeitlauf für ihn einnimmt.
Für die Durchdringung der Zeitlichkeit, für die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart in einem Bild, ist das Motiv der Wand ein sehr bedeutsames für Andrzej Jan Piwarski geworden. Schon Leonardo da Vinci empfahl jungen Malern, die Flecken an einer Wand zu studieren, denn sie seien voller Bilder. Bei der Betrachtung der Malereien von Andrzej Jan Piwarski möchte man meinen, er habe sich diesen Rat zu Herzen genommen. Viele seiner Werke verdichten die von Leonardo angesprochenen Bilder auf Wänden zu neuen Kunstwerken. In vielen Schichten trägt er die Farben auf, mischt den Farben Sand, Kohlenstaub und vor allem Marmormehl bei, so dass seine Malereien eine sehr feine und besondere Plastizität auszeichnet. Die Töne unterer Farbschichten werden wie in einem Sgraffito an die Oberfläche hervorgekratzt. Striche, Buchstaben, Wörter formen grafische Strukturen. Aber sie können nicht entziffert werden. Durch die vielen Malschichten verlieren sie ihre Lesbarkeit. Mit feinen Lasuren erreicht Piwarski die Blässe des Verblichenen; er lässt die Aufschriften wie durch Wind und Wetter ausgewaschen wirken.
Andrzej Jan Piwarski legt in seinen Malereien eine zeitliche Distanz aus: Unter den vielen Farbschlieren sind immer noch ältere Bildschichten zu erkennen. Die Schriften werden dabei immer archetypischer. Auch die Zeichen verlieren allmählich ihre Zeichenhaftigkeit und können nicht mehr eindeutig einer bestimmten Sprache oder einer bestimmten Kultur zugeordnet werden. Den Betrachter versetzen diese Werke in die Rolle eines Archäologen, denn die Betrachtung wird zu einem Prozess der visuellen Recherche. Piwarski’s Malereien werfen Fragen auf, deren Beantwortung nur der Betrachter selbst erahnen kann.
Während die älteren Werke eine bewusste künstlerische Gestik auszeichnete, nimmt Piwarski in seinen jüngeren Malereien die individuelle Handschrift zugunsten einer sich verstärkenden meditativen, in die Fläche arbeitenden Bildwirkung zurück. Vor allem das durch die Materialbeimischung erzeugte feine Oberflächenprofil seiner Bilder, lässt die verschiedenen Farbschichten ansichtig werden.
Ein dichter Blick auf die Werke Piwarkis fühlt sich an den rauen Putz mancher Hauswand erinnert. In dieser Materialität zeigt sich Leben unmittelbar und vielschichtig. Es ist ein direkter Ausdruck von Wirklichkeit. Deshalb reichen die Werke Piwarskis über Fragen der Form und der Komposition hinaus und offenbaren sich als ein von der Materie ausgehender, unmittelbarer Realismus. Ein Realismus, der in einer Traditionslinie mit der existenzialistischen, informellen Malerei der Nachkriegszeit, aber auch des “nouveau réalisme” der 1950er/1960er Jahre steht.
Der Realismus, den Andrzej Jan Piwarski in seinen Werken praktiziert, ist vor allem ein fundamental anderer als derjenige, den man ihm lehren wollte. So revoltierte er in den 1960er Jahren an der Kunstakademie Danzig gegen die vorherrschenden Dogmen eines kleinbürgerlichen Akademismus, der sich als sozialistisch und realistisch ausgab. Piwarski widersetzte sich den Gesetzen und Normen einer politisch instrumentalisierten Kunst. Den programmatisch ausgerufenen sozialistischen Realismus führte er in seinem Schaffen auf eine materialistische Grundlage zurück. So konfrontierte er den Überbau mit der Basis und erkannte darin die Malerei als ein Bollwerk der Freiheit. Dass er in den 1970er und 1980er Jahren in Gdansk auf der Seite von Solidarnosc stand, erweist sich als folgerichtig. Die starren Grenzen der Staatenblöcke zu überwinden, nahm er für sich als ein Menschenrecht in Anspruch. Die Möglichkeit eines System- und Perspektivenwechsels gehörte für ihn zum Leben hinzu. Bereits seit 1973 lebte, arbeitete und stellte Andrzej Jan Piwarski in anderen europäischen Ländern aus. Deshalb bewegte sich sein künstlerisches Schaffen immer in einem europäischen Kontext. Die Tradition der klassischen Moderne und das damit verbundene Ethos einer kultivierten Malerei wollte Piwarski nicht ignorieren.
Piwarski arbeitet im Kontext eines zeitgenössischen Realismus, der nicht konstruiert werden muss, sondern sich auf die Dinge, Objekte, Medien und Existenzen der Gegenwart konkret bezieht. Den Betrachtern die Augen zu öffnen für die Wirklichkeiten der Gegenwart und ihren Beziehungen zu den Formen der Vergangenheit, das ist ein wichtiges Anliegen seiner Werke. Dabei spielt die Materie eine besondere Rolle: Sie ist nicht nur Arbeitsmaterial, sondern auch Ausdrucksträger und Symbol. So könnte man seine Werke als einen “realistischen Materialismus” pointieren, denn Piwarski lässt die Materie selbst sprechen. Damit gelingt es ihm immer wieder, in dem Gegenwärtigen das Vergangene zu entdecken und aus dem Vergangenen Perspektiven für unsere Gegenwart und Zukunft zu entwickeln.
An der Zukunft arbeitet Andrzej Jan Piwarski schon seit einiger Zeit in einer ganz konkreten Weise: 1992 gründete er zusammen mit seiner Frau, der Künstlerin Barbara Ur, das Europäische Kunstlaboratorium Tuchomie in Polen. Es entwickelte sich zu einem Treffpunkt von Künstlerinnen und Künstlern aus vielen Ländern. So verstand sich Andrzej Jan Piwarski nicht nur als ein polnischer Künstler, sondern stets auch als ein europäischer Künstler, der mit seinem eigenen Handeln dazu beiträgt, Grenzen und Gegensätze zu überwinden. Diese und andere Projekte zeugen von Andrzej Jan Piwarskis Energie und ungebrochener Kreativität, mit der er sich immer wieder auf neue Herausforderungen einlässt. Unterstützung, Inspiration und Ansporn dabei ist ihm seit mehr als vierzig Jahren die Künstlerin Barbara Ur, seine Frau. Sie beide zusammen haben sich 2005 einer neuen Herausforderung gestellt und ihren Lebens- und Arbeitsort nach Berlin verlegt. Man darf gespannt sein, welche Entwicklung diese “Situation Berlin” ihren Werken geben
MARTIN SCHÖNFELD- aus dem Katalog ” Andrzej Jan Piwarski – Malerei, Graphik- ZEITSPUREN – Jubiläumsausstellung – 70.Geburststag 1938 – 2008″, Rathausgalerie Tempelhof – BERLIN 2008