ORTWIN GOERTZ – “Zeitspuren” aus dem Katalog ” ANDRZEJ JAN PIWARSKI -Nationalmuseum Danzig – Polen 1994

…A.J.Piwarski befasst sich in seinen Bildern mit der Empfindungswelt des modernen Menschen, mit seinen Zivilisationsproblemen in einer technologisch geprägte Stadtlandschaft, die als Symbol für Fortschritt und gesellschaftliche Gefährdung gleichermaßen angesehen wird.
A.J.Piwarski versucht hier offensichtlich Dinge und Figuren bildlich im Rohzustand festzuhalten und ihren die gleiche Stofflichkeit zu geben wie der Materie selbst, aus der heraus er sie schält und in welche er Spuren ihrer Existenz hineinkratzt.
Die bevorzugten Stoffe sind Sand, Marmormehl und Kohlenstaub, mit denen er vermischt mit Farben und anderen Bindemitteln Spuren seiner Erlebnisse und Erfahrungen festhält. Das Bild wird somit zu einem Materialrelief und zu einer Topographie aus Spuren, Zeichen, Symbolen und Figurationen. Es ist hilfreich, diese Gemälde wie Suchbilder zu behandeln, denn sie sind von Spuren durchzogen, die erst gesichert werden müssen.
Assoziativ erinnern seine Ritzlinien und dumpfbrütenden Spuren an die prähistorischen Stätten von Altamira in Nordspanien, in denen die Menschen der Vorzeit ebenso ihre Ängste. Wünsche und Hoffnungen mit dem Zauber und der magischen Kraft elementarer Farb-und Liniensysteme verbanden. Aber auch an die abbröckeln den Oberflächen alter verstauber Hauswände spanischer Dörfer und Städte in die es Andrzej J. Piwarski immer wieder hinzieht, erinnern viele seine Werke. Rissige Mauern mit abblätterndem Putz, die wie Landkarte der Geschichte ihrer Bewohner anmuten.
Die Sicherheit der Hand, die die Leinwand nunmehr durchmalt, überträgt sich direkt und unvermittelt auf die Struktur des Bildes, da die Übermalung unwiederholbar und korrigiert wird. Die Farben sind düster zurückhaltend, mitunter kalkig weiß und grell, oft auch optimistisch monochrom blau. Sie umfassen im Wesentlichen die Farbskalen der Erde in der unterschiedlichsten Konsistenz: vom kräftigen Ocker bis Braun, bis Dunkelrot, in der er Spuren und Zeichen der irdischen zeit setzt. Dabei vermeidet er jede vordergründige expressive Emotion, wie sie beispielhaft die Künstler des “action painting” hinterließen. Vielmehr widmet er sich gezielt und bewusst monochromer Farbspuren, um seine Intention Zeitspuren eindeutig zu kennzeichnen.

Dabei reduziert Piwarski seine Malerei auf bewusst schwer definierbarer und irrationaler Ebene, ohne die realistischen Zeitspuren zu verdecken. Und dennoch sich die dinge, bzw. Zeichen imstande, eine Vision vergangener und künftiger Perspektiven brennpunktartig zusammenzufassen. Sie greifen unmittelbar die Existenz und das Denken des Menschen an. Es gilt für ihn, die Malerei wiederum zu ihrem recht zu verhelfen, ihr die Poesie, Sinnlichkeit und Phantasie, ihren Mythos und ihre Anschaulichkeit zurückzugeben. Dieser Ansturm wird mit größter Spontaneität und Leidenschaft auf die Bildfläche oder theoretisch langatmig vorbereitet.
Zeitspuren als Subkultur, Erlebnisse, magischer, kindhafter oder banaler persönlichere und lokaler Herkunft überfluten die Sinne des Betrachters, Instinkt, Vitalität und Imagination, rasches Zupacken und unverhüllte Drastik, Zitate aus Bildern jetmöglicher Expression werden wichtiger als Komposition, Klarheit der Form und perfekte handwerkliche Ausführung. Die Fülle des realen Lebens steht erneut zur Debatte, nicht puristische, abgeklärte Gedankenspiele.
Für ihn ist gewissermaßen die “Zeichenspur” schöner, bedeutender als die Wiedergabe der unmittelbaren Realität. In seinen Werken bewegen sich nun mehr die Linien und Flächen wie Gespinste und Rinnsale in einem Perspektiv – und schwerelosen Raum.
Auch die explosionshart zerfahren den Eindruck des seismographisch niedergeschriebenen Dialogs des Künstlers mit seinem Schicksal, das sich zwischen Leid, Verzweiflung, Depression, Freude und Hoffnung bewegte.
Piwarski malt nunmehr keine vom Intellekt gesteuerten zielbewussten Inhalte mehr, sonder das wie eine offene Wunde bloßliegende Drama des Lebens, dessen realen Anschauungen verblassen, von dem lediglich Spuren Rudimentär Auskunft geben. So betitelt er seine Werke heute mit: “Spuren des Menschen”, “Zeitspuren”, “Spuren des Daseins” und “Ich bin – I am”.
In zunehmender Verselbständigung der Farbe entwickelt Piwarski einen Malstil mit stark in den Raum ausgreifenden Strukturen, die ohne lineare Betonung auskommt. Nicht die spontane Geste dominiert hier, sonder den gleichsam in wuchtigen Farbbändern durchlaufende Feldbereich, dessen Farbmasse in starker, reliefartiger Spachtelung aufgetragen ist.
.Die Verdichtung, der sich überlagernden Farbschichten entfaltet sich in einem Perspektiv – und grenzenlosen Raum, in dem die motorischen Kräfte und Empfindungsströme des Künstlers nicht mehr kontrollierbare Spuren hinterlassen haben.
Es gibt im Bild eigentlich ein gesichertes Oben und Unten, noch ein Vorne und Hinten. Jede Arbeit ist gleichsam ein Ausschnitt aus dem unendlichen Kosmos, dessen chaotische Formvielfalt nun eine bisher nie gesehene Vitalität angenommen hat.
Schwere graphische Bänder bannen wie in Ketten die vulkanisch aufbrechende Farbschichten, unter deren Oberfläche sich das Drama der Welt und der Urschöpfung abspielt. Geformtes und Ungestaltetes, Farbe und Kalligraphie gehen in jedem Bild eine Spannungsreiche Konfliktsituation ein. Um diesen Konflikt zu lösen, muss man in die Bilder Andrzej J. Piwarski eintreten, in denen er die Unterschiede zwischen Kunst und Leben aufzuheben versucht. Nur so ist der Augenblick vermittelbar, wo die Leinwand wie eine Arena erscheint, auf den Künstler einen tatsächlichen oder vermeintlichen Gegenstand wiedergibt, wiederschafft, untersucht und ausdrückt…
ORTWIN GOERTZ – “Zeitspuren” aus dem Katalog ” ANDRZEJ JAN PIWARSKI -Nationalmuseum Danzig – Polen 1994